Desertec, Geothermie, Photovoltaik – all diese „grünen“ Energiekonzepte mögen neuzeitlich und modern klingen. Tatsächlich haben sich die Menschen schon Anfang des 20. Jahrhunderts erstaunlich fortschrittliche Konzepte erdacht. Hanns Günther stellt einige in seiner bemerkenswerten Publikation „In hundert Jahren. Die künftige Energieversorgung der Welt.“ aus dem Jahr 1931 in zehn Kapiteln vor.
Zu Beginn illustriert Günther dem Leser die negativen Folgen einer Welt ohne Kohle – der damals wichtigsten Energiequelle – und selbst heute, über achtzig Jahre später, stellt Kohle noch rund ¼ des globalen Primärenergiebedarfs bereit. Kohlearmut bedeutet für ihn das Ende der Zivilisation und in der Folge ein „Krieg der kohlenarmen gegen die kohlenreichen Länder“. Aus seiner Sicht kann selbst die Wasserkraft hier keinen passablen Ersatz schaffen: Das damalige Weltpotential schätzt er auf 450 Millionen PS (das entspricht rund 330 GW). Und obwohl heute weltweit immerhin Wasserkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 1000 GW installiert sind, repräsentieren sie weniger als drei Prozent des globalen Primärenergiebedarfs.
Wasserkraft ist auch das Thema im zweiten Kapitel des Buches, in dem der Leser etwas über Herman Sörgels Pläne rund um das Panropa-Projekt erfährt. Dabei soll ein gigantischer Staudamm in der Straße von Gibraltar die Wasserzufuhr des Atlantik in das Mittelmeer unterbinden und über die natürliche Verdunstung im Mittelmeer ein entsprechendes Gefälle von 200 Metern geschaffen werden. 160 Millionen PS sollten sich mit diesem Staudamm erzeugen lassen, das entspricht umgerechnet rund 117 GW Leistung. Das derzeit größte Wasserkraftwerk der Welt, die Drei-Schluchten-Talsperre, leistet übrigens ganze 18 GW.
Anschließend werden Pläne des Franzosen Pierre Gandrillon aufgezeigt, der natürliche Senken im Mittelmeerraum (z.B. See Genezareth, Totes Meer) für die Wasserkrafterzeugung nutzen möchte. Hier handelt es sich vom Konzept her allerdings eher um Pumpspeicherkraftwerke, wobei das Oberbecken das Mittelmeer und die Unterbecken die entsprechenden Senken darstellen. Durch die hohen solaren Strahlungswerte sollten die Unterbecken durch Verdunstung immer wieder automatisch „geleert“ werden. Immerhin 250.000 PS (183 MW) sollen so aus einem Verbund von Mittelmeer, See Genezareth und Totem Meer bereitgestellt werden.
In zwei weiteren Kapiteln werden verschiedene technische Konzepte zu Wellen- und Gezeitenkraftwerken vorgestellt. Überhaupt ist der Glaube an die technische Machbarkeit im Buch zwar immer präsent, gleichwohl wird Technologie vorurteilsfrei und ausgewogen dargestellt, etwa in seiner Bestandsaufnahme der „alternativen Energien“:
„Die Technik ist immer einem Manne vergleichbar gewesen, der gerne viele Eisen im Feuer hat. (…) Sie sagt sich mit Recht, das es außer den Kohlen und den Wasserkräften noch mancherlei Energiequellen auf unserer schönen Erde gibt. (…) Das sichtbare Inventar ist schnell aufgenommen. Lassen wir die Kohlen, das Erdöl, die Flüsse und Wasserfälle beiseite, so kommen in Betracht:
– die unendlichen Wärmemengen, die von der Sonne her über die Erde fluten,
– die ungeheure Glut, die unser Wohnplanet als Mitgift seiner Mutter in seinem Inneren birgt,
– die Strömungen im Luftmeer, die wir Winde nennen,
– der Wellenschlag der Meere, der sich als donnernde Brandung an ihren Küsten bricht,
– das ewige steigen und Fallen der Gezeiten, gemeinhin Ebbe und Flut genannte periodische Bewegungen des Meeresspiegels, die der Mond mit seiner Massenanziehung zustande bringt.“
Im Kapitel „Gefesselte Zyklone“ kommt schließlich auch die Sonnenenergie zum tragen. Schon vor 80 Jahren zeigt er hier die Grundzüge des heutigen Desertec-Konzept auf:
„Auf S.8 bezifferten wir den wahrscheinlichen Energieverbrauch der Erde im Jahr 1970 auf eine Milliarde Jahrespferde. (a.d.R.: Das entspricht umgerechnet 735 Milliarden Kilowattstunden, der globale Jahresprimärenergiebedarf 2010 betrug 147.900 Milliarden Kilowattstunden) Zur Deckung dieses Energiebedarfs würden bei nur zehnprozentiger Ausnutzung der Sonnenwärme 40000 Quadratkilometer Saharafläche genügen, während die ganze Sahara 150mal größer ist.“
Gewonnen werden sollte diese Energie im Gegensatz zu neuzeitlichen Konzepten allerdings aus überdimensionalen Aufwindkraftwerken nach den Plänen von Bernard Dubos. Dabei steigt die in einer Art Treibhaus gesammelte heiße Wüstenluft über wärmeisolierte Steigrohre an einer Gebirgskette wie dem Atlas-Gebirge nach oben und treibt dort mit Windgeschwindigkeiten von 180 bis 200 Stundenkilometern eine Turbine an. Die Energie speist sich also wie bei echten Stürmen aus Temperaturunterschieden.
Nach einem ähnlichen Prinzip sollen auch die Energiegewinnung in den tropischen Weltmeeren nach George Claude und Paul Boucherot sowie in den arktischen Gebieten nach Barjot funktionieren. Bei ersterem wird der Temperaturunterschied von bis zu 24 Grad zwischen tropischen Oberflächenwasser und kälteren Wasserschichten in großen Tiefen genutzt. Anfang der dreißiger Jahre wurde in Kuba eine wenig erfolgreiche Versuchsanlage mit 22 kW Leistung errichtet – hier erreichte die Rohrleitung statt der anvisierten Meerestiefe von mehr als 1000 Metern nur 600 Meter und damit nur ein Wärmegefälle von 14 Grad. In einem weiteren Kapitel „Kraft der arktischen Kälte“ wird das Konzept eines Eiskraftwerks nach Barjot dargestellt.
In vorletzten Kapitel widmet sich Günther schließlich der heute umgangssprachlich als Geothermie bezeichneten Erdwärme: Schon damals war ein „Vulkankraftwerk“ im italienischen Larderello in der Toskana mit 12 MW in Betrieb – 80 Jahre später betreibt der italienische Energieversorger ENEL hier ein geothermisches Großkraftwerk mit mehr als 500 MW Leistung.
Am Ende seiner Abhandlung kommt Günther schließlich auf die „inneratomaren Energien“ der heutigen Atomkraft (Einsteins berühmte Formel E = mc² war damals übrigens schon 25 Jahre alt) zu sprechen und malt blumig die Möglichkeiten der neuen Technologie aus, auch wenn das erste Kernkraftwerk erst 20 Jahre später in Betrieb gehen sollte:
„…denn der jährliche Brennstoffbedarf eines Elektrizitätswerks wird in einer Wasserflasche unterzubringen sein, und für jede Arbeit wird man ganz selbstverständlich überall Elektrizität benützen“.
Gleichwohl verheimlicht er seinen Lesern keinesfalls die negativen Aspekte von Einsteins Formel, zu Recht, wie die Weltgeschichte wenige Jahre später zeigen sollte:
„Unbegrenzte Energiemengen werden der Menschheit dann zur Verfügung stehen, ebensogut geeignet Tod und Vernichtung zu säen, wie Leben und Glück. Ist die Menschheit nicht reif für diese Macht, wenn die Zukunft sie ihr in die Hände legt, so werden Völker und Länder daran zugrunde gehen. Als Opfer von „Menschen, Göttern gleich“, die wirklich den Blitz in ihren Fäusten schwingen.“