OpenAI 2.0 – die AI-Revolution frisst ihre eigenen Kinder?

OpenAI 2.0 - die AI-Revolution frisst ihre eigenen Kinder?

OpenAI 2.0 – Die Blaupause für das „Everything-Betriebssystem“ und die Neugestaltung des Internets

Der am 6. Oktober 2025 in San Francisco abgehaltene OpenAI DevDay markierte einen fundamentalen Wendepunkt in der strategischen Ausrichtung des Unternehmens.1 Weit mehr als eine routinemäßige Präsentation inkrementeller Produktverbesserungen, enthüllte die Veranstaltung die Blaupause für eine neue Ära des Computings. Die vorgestellten Konzepte, allen voran die native Integration von Applikationen direkt in ChatGPT, signalisieren eine ambitionierte Vision: die Transformation des einstigen Chatbots in ein umfassendes, KI-gesteuertes Betriebssystem.3 Diese Strategie zielt nicht weniger darauf ab, als die etablierte Ordnung der digitalen Welt, die jahrzehntelang von den App-Ökosystemen von Apple und Google sowie der Dominanz der Websuche geprägt war, grundlegend herauszufordern und neu zu definieren.5

Die Stoßrichtung der Ankündigungen war unmissverständlich an die globale Entwicklergemeinschaft gerichtet, deren Zahl sich auf vier Millionen verdoppelt hat.6 Sie werden als die entscheidenden Architekten dieses neuen Ökosystems betrachtet, die die Vision einer nahtlosen, konversationellen Interaktion mit digitalen Diensten Realität werden lassen sollen. Die zugrundeliegende These, die von führenden Branchenanalysten als der „Windows of AI“-Gambit bezeichnet wird, ist ebenso einfach wie weitreichend: Wer die Nutzerschnittstelle der Zukunft kontrolliert, kontrolliert das gesamte digitale Ökosystem.8

Dieser strategische Schwenk vollzieht sich vor dem Hintergrund eines beispiellosen Wachstums. Innerhalb kurzer Zeit ist die Zahl der wöchentlichen Nutzer von ChatGPT von 100 Millionen auf über 800 Millionen explodiert, während die API-Nutzung um den Faktor 20 von 300 Millionen auf sechs Milliarden Token pro Minute angestiegen ist.6 Diese massive Aggregation von Nutzern bildet das Fundament und den entscheidenden Hebel für OpenAIs Plattformambitionen.

Gleichzeitig offenbart diese Entwicklung eine tiefgreifende strategische Neuausrichtung, die im Widerspruch zum ursprünglichen Ethos des Unternehmens steht. OpenAI, gegründet mit der Mission, künstliche allgemeine Intelligenz (AGI) zum Wohle der gesamten Menschheit zu entwickeln und Forschungsergebnisse offen zu teilen, vollzieht eine unverkennbare Wende hin zu einem geschlossenen „Walled Garden“-Modell.10 Diese Entwicklung ist keine zufällige Abweichung, sondern eine bewusste kommerzielle Entscheidung. Angesichts des zunehmenden Wettbewerbs und der drohenden Kommodifizierung von KI-Basismodellen wird der Aufbau eines uneinnehmbaren Ökosystems zur strategischen Notwendigkeit, um einen dauerhaften Marktvorteil zu sichern. Die Priorität hat sich von einer reinen API-First- zu einer umfassenden Plattform-First-Strategie verschoben.

Dieses Dossier analysiert die technologischen Bausteine dieser neuen Plattform, bewertet ihre strategische Bedeutung im globalen Wettbewerbsumfeld und beleuchtet die weitreichenden systemischen Risiken, die diese Machtkonzentration für den Markt, die Konkurrenten und die grundlegenden Prinzipien des offenen Internets mit sich bringt.

Teil I: Die Bausteine des neuen Ökosystems – Technologische Grundlagen von OpenAI 2.0

Die auf dem DevDay 2025 vorgestellte Vision basiert auf einem Fundament aus drei eng miteinander verknüpften Säulen: einer revolutionären App-Integrationsschicht, die die Nutzererfahrung neu definiert; einem leistungsstarken Toolkit zur Erstellung autonomer KI-Agenten, die Handlungen ausführen; und einer massiv skalierten Infrastruktur, die durch neue KI-Modelle und strategische Hardware-Partnerschaften angetrieben wird.

Die App-Revolution: „Apps in ChatGPT“ und das Apps SDK

Das Herzstück der Ankündigungen war die Einführung von „Apps in ChatGPT“, ein Konzept, das das Potenzial hat, die Art und Weise, wie Nutzer mit Software interagieren, grundlegend zu verändern. Anstatt zwischen verschiedenen Applikationen auf einem Smartphone oder in Browser-Tabs zu wechseln, können Nutzer Dienste von Drittanbietern direkt innerhalb der ChatGPT-Konversation aufrufen und nutzen.3 Diese Interaktion erfolgt in natürlicher Sprache, wobei die KI als intelligenter Vermittler fungiert. Fragt ein Nutzer beispielsweise nach einer Playlist für eine Party, kann ChatGPT vorschlagen, die Spotify-App zu verwenden, um diese direkt zu erstellen.3

Die technische Umsetzung dieser Vision erfolgt über das neue Apps Software Development Kit (SDK), das sich derzeit in einer Preview-Phase für Entwickler befindet. Dieses SDK geht weit über frühere Experimente wie GPTs oder Plugins hinaus und stattet Entwickler mit „Full-Stack“-Fähigkeiten aus. Sie können damit vollwertige Applikationen mit eigener Backend-Logik und interaktiven Benutzeroberflächen (UIs) erstellen, die direkt im Chat-Fenster gerendert werden.1

Ein zentraler technologischer Baustein ist das Model Context Protocol (MCP), ein offener Standard, der es einer App ermöglicht, kontextbezogene Informationen an ChatGPT zurückzumelden.6 Dies ist entscheidend für eine flüssige und intelligente Konversation. In einer Demonstration mit der Coursera-App konnte ein Nutzer, der sich ein Video über maschinelles Lernen ansah, die Folgefrage stellen: „Worüber sprechen sie gerade?“. Dank des MCP konnte ChatGPT den Inhalt des Videos zum aktuellen Zeitpunkt der Wiedergabe analysieren und eine präzise Antwort geben.9

Die Demonstrationen der Launch-Partner illustrierten eindrucksvoll das Potenzial für nahtlose, aufgabenübergreifende Arbeitsabläufe. Ein Nutzer konnte mit der Canva-App in wenigen Minuten Poster für ein Hundesitter-Geschäft erstellen, anschließend nahtlos zu einer Konversation mit der Zillow-App wechseln, um auf einer interaktiven Karte nach geeigneten Immobilien in einer neuen Stadt zu suchen, und diese Suche durch sprachliche Anweisungen wie „Filtere nur nach Häusern mit drei Schlafzimmern und einem Garten“ verfeinern.2 Diese Fähigkeit, verschiedene Dienste innerhalb eines einzigen, kohärenten Workflows zu orchestrieren, ist der Kern der Vision eines „Super-Assistenten“, der komplexe, mehrstufige Aufgaben für den Nutzer erledigt.4 Um die Entdeckung dieser neuen Apps zu erleichtern, kündigte OpenAI zudem die Einführung eines öffentlichen App-Verzeichnisses für später im Jahr an.6

Die Handlungsebene: AgentKit und die Automatisierung von Workflows

Während „Apps in ChatGPT“ die Schnittstelle neu definieren, stellen KI-Agenten die nächste logische Evolutionsebene der Plattform dar: Systeme, die nicht nur Informationen bereitstellen oder Inhalte generieren, sondern autonom Handlungen in der digitalen und potenziell auch physischen Welt ausführen können.1 CEO Sam Altman räumte ein, dass trotz des großen Interesses bisher nur wenige KI-Agenten erfolgreich in den Markt eingeführt wurden, was auf die erhebliche Komplexität ihrer Entwicklung hindeutet.9

Um diese Hürde zu überwinden, stellte OpenAI das AgentKit vor – ein umfassendes Toolkit, das als „komplettes Set zum Bauen von Bots“ beschrieben wird und alles Notwendige zur Erstellung, Bereitstellung und Optimierung von „agentic workflows“ enthält.1 Dieses integrierte System soll den bisher fragmentierten und oft wochenlangen Entwicklungsprozess, der aus einer Vielzahl von Einzelwerkzeugen, manuellen Tests und aufwendiger Feinabstimmung bestand, radikal vereinfachen.3

Das AgentKit umfasst mehrere Schlüsselkomponenten:

  • Agent Builder: Ein visueller, teilweise per Drag-and-Drop bedienbarer Editor, der die Erstellung der Logik eines Agenten beschleunigt.7
  • ChatKit: Ein Werkzeug zur einfachen Integration anpassbarer Chat-Schnittstellen in Webseiten und Apps, um die Interaktion mit dem Agenten zu ermöglichen.2
  • Evals for Agents: Ein System zur Leistungsbewertung, das auf sogenanntem „Trace Grading“ basiert. Diese Methode ermöglicht es Entwicklern, die schrittweise Entscheidungsfindung eines Agenten zu analysieren und zu bewerten, um dessen Verhalten besser zu verstehen und zu optimieren.17

Technisch baut das AgentKit auf der bereits von Hunderttausenden Entwicklern genutzten Responses API auf und integriert sich nahtlos in das OpenAI Connectors Registry. Dies gewährleistet eine sichere Anbindung an unternehmensinterne Werkzeuge und andere Applikationen, die über ein zentrales Admin-Dashboard verwaltet werden kann.17

Das Fundament: Neue Modelle und die Skalierung der Infrastruktur

Die Realisierung dieser ambitionierten Plattformstrategie erfordert eine immense und stetig wachsende Rechenleistung, die von einer neuen Generation von KI-Modellen und einer beispiellosen Skalierung der zugrundeliegenden Hardware-Infrastruktur getragen wird.

Fortschritte bei den KI-Modellen

Auf dem DevDay 2025 wurden mehrere entscheidende Modell-Updates vorgestellt, die Entwicklern neue, leistungsfähigere Werkzeuge an die Hand geben:

  • GPT-5 Pro: Als neues Flaggschiff-Modell positioniert, ist GPT-5 Pro für Aufgaben konzipiert, die ein Höchstmaß an Genauigkeit, logischer Tiefe und komplexem Schlussfolgern erfordern („high accuracy and depth of reasoning“).1 Es ist über die API verfügbar und zeichnet sich durch ein massives Kontextfenster von 400.000 Token und eine maximale Ausgabelänge von 272.000 Token aus, was die Verarbeitung und Generierung sehr umfangreicher Texte ermöglicht.3 Das Modell ist multimodal und kann sowohl Text- als auch Bildeingaben verarbeiten und unterstützt erweiterte Programmierfunktionen wie „Function Calling“.3
  • gpt-realtime-mini: Als kosteneffiziente Alternative wurde dieses kompaktere Modell speziell für Echtzeit-Sprachinteraktionen optimiert.1 Mit einem Kontextfenster von 32.000 Token eignet es sich ideal für Anwendungen, bei denen geringe Latenz und Effizienz im Vordergrund stehen.3
  • Sora 2 API: Die zweite Generation des bahnbrechenden Video-Generierungsmodells wurde ebenfalls in der API verfügbar gemacht. Sora 2 verbessert die physikalische Realitätstreue der generierten Szenen erheblich und führt als entscheidende Neuerung die Fähigkeit zur Erzeugung von synchronisiertem Ton (Dialoge und Soundeffekte) ein.1 Eine „Pro“-Version des Modells bietet zudem höhere Auflösungen von bis zu 1792×1024 Pixeln für professionelle Anwendungsfälle in der Film- und Werbeindustrie.21
  • Codex: Das auf der GPT-5-Architektur basierende KI-Programmierwerkzeug wurde aus der Preview-Phase entlassen und ist nun allgemein verfügbar. Es wurde um ein eigenes SDK, eine tiefgreifende Slack-Integration und erweiterte Admin-Dashboards zur Überwachung und Analyse ergänzt, was seine zentrale Rolle in professionellen Entwicklungsworkflows unterstreicht.2
ModellKontextfenster (Token)Max. Output (Token)Unterstützte ModalitätenPrimäre AnwendungsfälleVerfügbarkeit
GPT-5 Pro400.000272.000Text, Bild (Input)Komplexe Analysen, tiefes logisches Schließen, Codegenerierung, wissenschaftliche ForschungAPI
gpt-realtime-mini32.0004.096Text, SpracheEchtzeit-Sprachassistenten, interaktive Chatbots, latenzkritische AnwendungenAPI
Sora 2 APIN/AN/AText, Bild (Input) -> Video, Audio (Output)Schnelles Prototyping, Social-Media-Content, KonzeptvisualisierungAPI
Sora 2 Pro APIN/AN/AText, Bild (Input) -> Video, Audio (Output)Kinoreife Videoproduktion, Marketing, professionelle kreative ArbeitenAPI

Die Skalierung der Infrastruktur

Die exponentielle Zunahme der Nutzerzahlen und der API-Nutzung hat einen unstillbaren Bedarf an Rechenleistung zur Folge. Diese Nachfrage ist die treibende Kraft hinter einer Reihe von strategischen Multi-Milliarden-Dollar-Partnerschaften, die darauf abzielen, OpenAIs Dominanz auf der Hardware-Ebene zu sichern und zu diversifizieren.

PartnerVereinbarte Leistung/Deal-UmfangFinanzielle AspekteStrategisches Ziel
AMD6 GW an GPUs über mehrere Jahre (beginnend mit MI450)Multi-Milliarden-Dollar-Deal; Warrant für OpenAI zum Kauf von bis zu 10% der AMD-AktienDiversifizierung der Lieferkette, Reduzierung der Abhängigkeit von Nvidia, Beeinflussung des Chip-Marktes
Nvidia10 GW an GPU-gestützten KI-Rechenzentren100-Milliarden-Dollar-Investition von Nvidia in OpenAI über 10 JahreSicherung des Zugangs zu marktführender GPU-Technologie, Skalierung für AGI-Forschung
OracleCloud- und Rechenkapazitäten für Stargate-Projekt300-Milliarden-Dollar-Deal über 5 JahreAufbau einer globalen, massiv skalierbaren Rechenzentrumsinfrastruktur (USA, UK, VAE, Indien etc.)

Diese Partnerschaften sind mehr als nur Lieferverträge; sie sind tiefgreifende strategische Verflechtungen. Insbesondere der Deal mit AMD, der eine potenzielle Beteiligung von OpenAI am Chiphersteller vorsieht, signalisiert den Versuch, die gesamte Wertschöpfungskette von der Silizium-Ebene aufwärts zu beeinflussen.6

Die Kausalitätskette, die dieser Entwicklung zugrunde liegt, ist klar: Das explosive Nutzerwachstum schafft eine beispiellose Nachfrage nach spezialisierter Rechenleistung. Diese Nachfrage, die von Analysten als verzweifelte Suche nach mehr Rechenkapazität beschrieben wird („desperate for more compute“), verleiht OpenAI eine enorme Marktmacht.23 Diese Machtposition als weltweit größter Abnehmer von KI-Chips ermöglicht es dem Unternehmen, nicht nur Lieferungen zu sichern, sondern auch strategische Konditionen auszuhandeln, die weit über übliche Geschäftsbeziehungen hinausgehen. Das Nutzerwachstum wird somit direkt in strategische Kontrolle über die zugrundeliegende Hardware-Infrastruktur umgewandelt – ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur vertikalen Integration des KI-Stacks.

Teil II: Strategische Analyse – Der „Windows of AI“-Gambit

Die auf dem DevDay 2025 vorgestellten technologischen Bausteine sind keine isolierten Innovationen, sondern Elemente einer kohärenten und weitreichenden Strategie. Diese zielt darauf ab, eine marktbeherrschende Stellung zu erlangen, die in ihrer Ambition an die Dominanz von Microsoft Windows im Zeitalter des Personal Computers erinnert. Die Analyse dieser Strategie offenbart einen mehrstufigen Plan zur Bündelung der Nachfrage, zur Kontrolle der Wertschöpfungskette und zur Etablierung neuer Monetarisierungsmodelle.

Vom Chatbot zum Betriebssystem: Die Plattform-Strategie entschlüsselt

Die Kernstrategie von OpenAI lässt sich am besten durch die von dem Analysten Ben Thompson geprägte Analogie des „Windows of AI“ verstehen.8 Der Weg zur Plattform-Dominanz im heutigen digitalen Zeitalter führt nicht über die Bereitstellung eines leeren Frameworks, sondern über die Etablierung eines äußerst populären Produkts. ChatGPT ist mit seinen 800 Millionen wöchentlichen Nutzern genau dieses Produkt.6

Der erste Schritt dieser Strategie war die massive Aggregation von Endnutzern. Dieser Schritt ist nun abgeschlossen. Der zweite Schritt, der auf dem DevDay eingeleitet wurde, besteht darin, diese riesige Nutzerbasis als Hebel zu nutzen, um Entwickler anzuziehen. OpenAI muss Entwickler nicht mehr aktiv umwerben oder bezahlen; der Zugang zu 800 Millionen potenziellen Kunden ist Anreiz genug. Die Last der Integration und die Sicherstellung einer performanten Anbindung liegen nun vollständig bei den Drittanbietern, nicht mehr bei OpenAI.8

Indem OpenAI die Beziehung zum Endnutzer kontrolliert, wird ChatGPT zum primären Interface für eine wachsende Zahl digitaler Dienste. Die strategische Implikation ist tiefgreifend: Dies ist kein Versuch, ChatGPT besser in das bestehende Web zu integrieren, sondern vielmehr der Versuch, das Web in ChatGPT zu absorbieren.4 Eine Applikation oder ein Dienst, der nicht innerhalb des ChatGPT-Ökosystems verfügbar ist, läuft Gefahr, für einen signifikanten und wachsenden Teil der Nutzer schlichtweg nicht mehr zu existieren.8 Diese Vision wurde von OpenAI-Führungskräften bestätigt, die erklärten, das ursprüngliche Ziel sei nie gewesen, einen reinen Chatbot zu bauen, sondern einen „Super-Assistenten“, der in der Lage ist, eine Vielzahl von Software und Diensten zu orchestrieren, um komplexe Nutzeranfragen zu erfüllen.4

Ein neuer ökonomischer Burggraben: Nachfrage bündeln, Angebot kontrollieren

Durch die Etablierung von ChatGPT als zentralem Betriebssystem schafft OpenAI einen neuen, mächtigen ökonomischen Burggraben („moat“). In diesem Modell werden etablierte und erfolgreiche Unternehmen wie Zillow, Expedia oder Spotify zu „modularen Zulieferern“ für den übergeordneten ChatGPT-Assistenten.15 Ihre Marken und Funktionalitäten werden zu austauschbaren Komponenten innerhalb einer von OpenAI gesteuerten Gesamterfahrung. Die direkte Beziehung zum Kunden, die bisher die Stärke dieser Unternehmen ausmachte, wird durch OpenAI als Intermediär unterbrochen.

OpenAI positioniert sich damit als die entscheidende Schicht in der Wertschöpfungskette – zwischen den Nutzern und den unzähligen Diensten, die sie in Anspruch nehmen. Ähnlich wie Google die Wertschöpfung im Informationszugang und Apple im mobilen App-Markt an sich gezogen hat, strebt OpenAI an, einen signifikanten Teil des Wertes, der durch die Interaktionen auf seiner Plattform geschaffen wird, für sich zu beanspruchen.

Diese Strategie setzt auf starke Netzwerkeffekte, die einen positiven Rückkopplungskreislauf in Gang setzen: Je mehr Nutzer die Plattform verwenden, desto attraktiver wird sie für Entwickler, die ihre Dienste anbieten wollen. Je mehr nützliche Apps und Agenten auf der Plattform verfügbar sind, desto unverzichtbarer wird sie für die Nutzer. Dieser sich selbst verstärkende Zyklus schafft einen mächtigen und nur schwer zu überwindenden Marktvorteil, der die Position von OpenAI langfristig zementieren soll.12

Diese Plattformstrategie kann auch als eine defensive Maßnahme verstanden werden. In einem Marktumfeld, in dem der Wettbewerb bei den zugrundeliegenden KI-Basismodellen stetig zunimmt – insbesondere durch leistungsstarke Open-Source-Alternativen wie Llama 3 von Meta oder architektonisch effiziente Modelle wie Mixtral von Mistral AI – ist ein dauerhafter Wettbewerbsvorteil allein durch technische Modellüberlegenheit schwer aufrechtzuerhalten.11 Die Verlagerung des Wettbewerbs von der reinen Modellebene auf die Ebene des Ökosystems ist daher ein strategisch kluger Schachzug. Selbst wenn Konkurrenzmodelle in Zukunft eine vergleichbare oder sogar bessere Leistung bieten sollten, kann die reine technische Fähigkeit den Lock-in-Effekt und die Trägheit eines etablierten Ökosystems mit Millionen von Nutzern und Tausenden von integrierten Apps kaum überwinden.12 Der Aufbau des „Everything-Betriebssystems“ ist somit eine proaktive Absicherung gegen die drohende Kommodifizierung der eigenen Kerntechnologie.

Monetarisierung 2.0: Agentic Commerce Protocol und Instant Checkout

Die Plattformstrategie eröffnet OpenAI völlig neue Wege der Monetarisierung, die weit über die bisherigen Einnahmequellen aus API-Gebühren und ChatGPT-Plus-Abonnements hinausgehen.4 Der Schlüssel hierzu liegt in der direkten Integration von kommerziellen Transaktionen in die Konversation.

Mit der Einführung des „Agentic Commerce Protocol“ (ACP) und der „Instant Checkout“-Funktionalität, die in Partnerschaft mit dem Zahlungsdienstleister Stripe entwickelt wurde, können Nutzer Käufe von Produkten und Dienstleistungen direkt innerhalb des Chat-Fensters abschließen.4 Ein Nutzer könnte beispielsweise einen Flug über die Expedia-App suchen und buchen, ohne ChatGPT jemals zu verlassen.

Dies eröffnet OpenAI die Möglichkeit, an jeder einzelnen Transaktion, die über die Plattform abgewickelt wird, eine Gebühr zu erheben.4 Das potenzielle Umsatzvolumen dieses transaktionsbasierten Modells übersteigt das von Abonnementgebühren um ein Vielfaches. Darüber hinaus sind weitere Monetarisierungsmodelle denkbar, wie beispielsweise die Erhebung von Vermittlungsgebühren („Finder’s Fees“) für die Weiterleitung von Nutzern an kostenpflichtige Dienste oder die Platzierung von gesponserten App-Empfehlungen in den Antworten der KI.15 OpenAI schafft sich damit die Grundlage, zum zentralen Marktplatz der KI-gestützten Ökonomie zu werden.

Teil III: Die Neuordnung der Wettbewerbslandschaft

Die strategische Neuausrichtung von OpenAI ist nicht weniger als ein direkter Angriff auf die etablierte Ordnung der Technologiebranche. Die Vision eines zentralen, konversationellen Betriebssystems fordert nicht nur das Duopol von Apple und Google im App-Markt heraus, sondern übt auch massiven Druck auf eine breite Palette von etablierten Technologieunternehmen und Start-ups aus. Gleichzeitig greift OpenAI durch seine strategischen Hardware-Partnerschaften tief in die Wertschöpfungskette der Halbleiterindustrie ein und verschiebt dort die Machtverhältnisse.

Herausforderung für das Duopol: OpenAI vs. Apple App Store & Google Play Store

Die Einführung von „Apps in ChatGPT“ stellt eine fundamentale Alternative zum Paradigma der mobilen App-Stores dar, das die digitale Interaktion seit über einem Jahrzehnt dominiert. Der Vergleich der beiden Modelle offenbart tiefgreifende Unterschiede in der Nutzererfahrung, der Entwicklerintegration und dem zugrundeliegenden Geschäftsmodell.

KriteriumOpenAI (Apps in ChatGPT)Apple (App Store)Google (Play Store)
User Experience (UX)Konversationell, kontextbezogen, aufgabenorientiert; KI als VermittlerVisuell, gitterbasiert, App-zentriert; direkte NutzerinteraktionVisuell, gitterbasiert, App-zentriert; anpassbarer, offener
App-EntdeckungProaktiv durch KI-Vorschläge im Kontext der Konversation; App-VerzeichnisManuelle Suche, kuratierte Listen (Charts, Featured), redaktionelle EmpfehlungenAlgorithmus-basierte Suche (ASO), Charts, personalisierte Empfehlungen
Entwickler-Integration (SDK)Apps SDK für konversationelle Workflows; schnelle Iteration möglichUmfangreiche, native SDKs (Swift, Objective-C); tiefer Zugriff auf Geräte-HardwareNative SDKs (Kotlin, Java), Web-Technologien; hohe Flexibilität
Review-ProzessNeu, Richtlinien in Entwicklung; zunächst kuratierte PartnerStreng, langwierig (bis zu 48h), detaillierte Richtlinien; hohe QualitätskontrolleSchneller, stärker automatisiert (Stunden bis Tage); offener, aber anfälliger für Malware
MonetarisierungAgentic Commerce Protocol (ACP), Instant Checkout; Revenue Share noch unbekanntIn-App Purchase System (IAP) obligatorisch; 15-30% ProvisionGoogle Play Billing obligatorisch; 15-30% Provision
Grad des „Developer Lock-in“Sehr hoch; enge Kopplung an OpenAI-Modelle, -APIs und -RichtlinienHoch; Bindung an das Apple-Ökosystem (iOS, macOS)Moderat; Android ist Open Source, alternative Stores möglich
Zugang zu Geräte-APIsLimitiert; Interaktion erfolgt primär über die Cloud-SchnittstelleUmfassend; direkter Zugriff auf Kamera, GPS, Sensoren etc.Umfassend; breiter Zugriff auf Gerätefunktionen
Datenschutz-KontrolleNutzergesteuerte Zustimmung pro App-Verbindung; Datenverarbeitung durch OpenAIApp Tracking Transparency (ATT), Privacy Labels; strenge NutzerkontrolleDetaillierte App-Berechtigungen; Kontrolle liegt beim Nutzer

Die OpenAI-Plattform bietet eine radikal andere Nutzererfahrung. Anstatt eine App zu suchen und zu öffnen, beschreibt der Nutzer eine Aufgabe, und die KI schlägt die passende App vor oder führt die Aktion direkt aus.5 Für Entwickler verspricht dies einen schnelleren Weg zur Erstellung konversationeller Anwendungen, geht aber mit einer starken Abhängigkeit von der OpenAI-Plattform einher.29 Während die Monetarisierungsmodelle von Apple und Google auf einer festen Provision von 15-30% basieren, sind die genauen Konditionen für Entwickler im OpenAI-Ökosystem noch unklar, was sowohl eine Chance als auch ein Risiko darstellt.29

Der Druck auf etablierte Player und Start-ups

Die Auswirkungen der OpenAI-Strategie gehen weit über den App-Markt hinaus und bedrohen die Kerngeschäftsmodelle einiger der größten Technologieunternehmen der Welt.

  • Angriff auf Google Search: Das traditionelle Modell der Websuche, das auf der Bereitstellung einer Liste von Links als Antwort auf eine Suchanfrage basiert, wird durch ChatGPT direkt untergraben. Die KI liefert synthetisierte, direkte Antworten und kann durch die App-Integration nun auch direkt Aktionen ausführen (z.B. eine Reise buchen, ein Produkt bestellen). Nutzer haben somit immer weniger Gründe, die ChatGPT-Umgebung zu verlassen, was das werbebasierte Geschäftsmodell von Google existenziell bedroht.
  • Bedrohung für SaaS und Aggregatoren: Eine Vielzahl von Software-as-a-Service (SaaS)-Unternehmen und Aggregator-Plattformen (z.B. in den Bereichen Reisen, E-Commerce, Projektmanagement) verdanken ihren Erfolg der Bereitstellung von spezialisierten Benutzeroberflächen, die komplexe Aufgaben vereinfachen. KI-Agenten, die diese Aufgaben direkt in der ChatGPT-Konversation ausführen können, könnten viele dieser spezialisierten Schnittstellen überflüssig machen.
  • Konsolidierung im KI-Sektor: Die immense Kapital- und Rechenleistung, die hinter OpenAI und seinen Partnern wie Microsoft und Nvidia steht, schafft eine fast unüberwindbare Eintrittsbarriere für unabhängige KI-Start-ups.27 Diese sind zunehmend gezwungen, sich mit einem der großen Tech-Konzerne zu verbünden, um Zugang zu den notwendigen Ressourcen zu erhalten. Dies führt zu einer fortschreitenden Konsolidierung des Marktes und der Entstehung eines KI-Oligopols, in dem nur noch eine Handvoll von Akteuren den Ton angeben, was die Vielfalt und den Wettbewerb langfristig gefährdet.26

Der Machtkampf um Silizium: Die Neuausrichtung des Chip-Marktes

OpenAIs unstillbarer Hunger nach Rechenleistung macht das Unternehmen zum entscheidenden Akteur auf dem globalen Markt für KI-Chips und ermöglicht es ihm, die Wettbewerbsdynamik aktiv zu gestalten.

  • Reduzierung der Nvidia-Abhängigkeit: Der strategische Multi-Milliarden-Dollar-Deal mit AMD über die Lieferung von 6 GW an GPUs ist ein gezielter Schachzug, um eine starke zweite Bezugsquelle neben dem bisherigen Marktführer Nvidia aufzubauen.8 Diese „Second Sourcing“-Strategie, die historisch bereits von IBM gegenüber Intel angewendet wurde, zielt darauf ab, die eigene Verhandlungsposition zu stärken und die Preissetzungsmacht von Nvidia zu begrenzen.8
  • OpenAI als Königsmacher: Die schiere Größe der Aufträge von OpenAI hat direkte Auswirkungen auf die Marktanteile und Bewertungen der Chiphersteller. Die Ankündigung der Partnerschaft ließ den Aktienkurs von AMD um über 25% in die Höhe schnellen und signalisierte dem Markt, dass eine ernsthafte Alternative zu Nvidia entsteht.6 Dies zeigt, dass die Macht im KI-Stack zunehmend von der reinen Hardware-Ebene (den Chip-Herstellern) auf die Plattform-Ebene (den größten Nachfragern wie OpenAI) übergeht.

Diese Entwicklungen führen dazu, dass OpenAI zu einem neuen „Gravitationszentrum“ im Technologie-Ökosystem wird. Die Anziehungskraft der 800 Millionen Nutzer ist so stark, dass sie nicht nur App-Entwickler, sondern auch Hardware-Hersteller und sogar direkte Konkurrenten zwingt, ihre eigenen Strategien in Bezug auf OpenAI zu definieren. In dieser neuen Konstellation wird Google, das ebenfalls über einen vollständig vertikal integrierten Stack von Chips über Modelle bis zu Endanwendungen verfügt, zur „Apple für OpenAIs Microsoft“ – ein mächtiger, aber isolierter Konkurrent, der sich gegen ein breites, sich schnell um den neuen De-facto-Standard von OpenAI formierendes Ökosystem behaupten muss.8 OpenAI agiert nicht mehr nur als ein Akteur im Markt, sondern formt diesen Markt aktiv um sich herum.

Teil IV: Systemische Risiken und die Zukunft des Internets

Die aggressive Plattformstrategie von OpenAI ist zwar aus unternehmerischer Sicht nachvollziehbar, birgt jedoch erhebliche systemische Risiken für die Struktur des Internets, den fairen Wettbewerb und die Gesellschaft als Ganzes. Die angestrebte Zentralisierung von Nutzerinteraktionen, die vertikale Integration der Wertschöpfungskette und die damit einhergehende Machtkonzentration werfen grundlegende Fragen über die Zukunft der digitalen Welt auf.

Das Dilemma des „Walled Garden“: Zentralisierung vs. das offene Web

Die Vision von ChatGPT als zentralem Betriebssystem steht im direkten Widerspruch zu den Gründungsprinzipien des Internets: Dezentralität, Offenheit und direkter, unvermittelter Zugang zu Informationen und Diensten.

  • ChatGPT als neues Tor zum Internet: Wenn Nutzer ihre Informationssuche, ihre Einkäufe und ihre täglichen Aufgaben zunehmend innerhalb der geschlossenen Umgebung von ChatGPT beginnen und beenden, umgehen sie das offene Web.15 Webseiten, Blogs und unabhängige Dienste werden nicht mehr direkt besucht, sondern ihre Inhalte und Funktionen werden von der KI aggregiert, neu verpackt und vermittelt. Dies untergräbt das Fundament des offenen Internets und schafft einen neuen, mächtigen Gatekeeper.
  • Verlust der Vielfalt und Neutralität: In einem zentralisierten Modell entscheidet ein einziger Akteur – OpenAI – durch seine Algorithmen darüber, welche Apps, Dienste und Informationen den Nutzern prominent präsentiert werden. Dies birgt die Gefahr einer Verringerung der Vielfalt an Stimmen und Angeboten und stellt die neutrale Vermittlung von Informationen in Frage.
  • Abhängigkeit und Kontrollverlust: Unternehmen, Entwickler und Content-Ersteller werden in eine extreme Abhängigkeit von den Richtlinien, Algorithmen und Geschäftsmodellen einer einzigen Plattform gedrängt. Änderungen an diesen Faktoren können über Nacht ganze Geschäftsmodelle zerstören, eine Dynamik, die bereits von Plattformen wie Google Search oder Facebook bekannt ist, hier aber ein noch größeres Ausmaß annehmen könnte.

Diese Zentralisierung schafft eine subtile, aber mächtige Form der Kontrolle. Während die Benutzeroberfläche dem Nutzer eine scheinbar unendliche Auswahl an Diensten und Apps suggeriert, wird diese Auswahl in Wirklichkeit von einem einzigen, für den Nutzer undurchsichtigen Akteur kuratiert und vermittelt: dem KI-Modell von OpenAI. Der Auswahlprozess verlagert sich von einer bewussten, expliziten Entscheidung des Nutzers (z.B. die Auswahl einer App aus einem Store) hin zu einer impliziten, algorithmischen Empfehlung.3 Da die Kriterien, nach denen der Algorithmus eine App einer anderen vorzieht, eine Blackbox bleiben, entsteht eine „Illusion der Wahl“. Der Nutzer interagiert zwar mit bekannten Marken, doch der zentrale Vermittler und Gatekeeper kontrolliert den Zugang, den Kontext und letztlich den gesamten Interaktionsfluss. Dies stellt eine weitaus weniger offensichtliche und potenziell wirkungsvollere Form der Plattformkontrolle dar als die traditionellen App-Stores.

Vertikale Integration und das KI-Oligopol

Die Strategie von OpenAI und seinen engsten Partnern, insbesondere Microsoft, führt zu einer beispiellosen vertikalen Integration, die den gesamten Technologie-Stack umfasst: von den Silizium-Chips (durch strategische Deals mit Nvidia und AMD) über die Cloud-Infrastruktur (Microsoft Azure) und die Basismodelle (GPT-Serie) bis hin zur Endanwendung und dem Marktplatz (die ChatGPT-Plattform).32

  • Errichtung von Markteintrittsbarrieren: Diese Kontrolle über die gesamte Wertschöpfungskette schafft massive Hürden für neue Wettbewerber.27 Unabhängige Start-ups können unmöglich mit den finanziellen Ressourcen, dem privilegierten Zugang zu Rechenleistung und der integrierten Marktmacht dieses entstehenden Oligopols konkurrieren.26 Die Folge ist eine erstickende Wirkung auf Innovationen, die außerhalb dieses geschlossenen Systems entstehen könnten.32
  • Unüberwindbare Interessenkonflikte: Die Situation, in der eine Handvoll von Unternehmen gleichzeitig als Lieferant, Investor, Kunde und direkter Konkurrent für kleinere Firmen agiert, führt zu unauflöslichen Interessenkonflikten.32 Wie soll ein unabhängiges KI-Unternehmen fair konkurrieren, wenn sein Cloud-Anbieter (z.B. Microsoft) gleichzeitig der größte Investor seines Hauptkonkurrenten (OpenAI) ist? Diese Konstellation verzerrt den Wettbewerb und untergräbt die Prinzipien eines freien Marktes. Aufsichtsbehörden wie die US-amerikanische Federal Trade Commission (FTC) und das Department of Justice (DOJ) haben bereits öffentlich Bedenken hinsichtlich dieser Verflechtungen geäußert.34

Ethische, gesellschaftliche und ökologische Implikationen

Die Konzentration von Macht und Daten auf einer einzigen Plattform birgt tiefgreifende Risiken, die über rein wirtschaftliche Bedenken hinausgehen.

  • Daten- und Privatsphärenrisiken: Die Zentralisierung von Milliarden von Nutzerinteraktionen – von alltäglichen Fragen über berufliche Aufgaben bis hin zu kommerziellen Transaktionen – schafft ein beispielloses Reservoir an hochsensiblen persönlichen Daten. Dies erhöht das Risiko von Datenschutzverletzungen, Überwachung und Missbrauch in einem noch nie dagewesenen Ausmaß.35 Studien haben zudem gezeigt, dass große Sprachmodelle unbeabsichtigt private Informationen, die Teil ihrer Trainingsdaten waren, in ihren Antworten preisgeben können, was ein zusätzliches, schwer zu kontrollierendes Risiko darstellt.36
  • Algorithmische Voreingenommenheit und Manipulation: Die von der KI kuratierten Antworten, Empfehlungen und App-Vorschläge sind nicht neutral. Sie spiegeln die in den Trainingsdaten enthaltenen gesellschaftlichen Vorurteile wider und können diese verstärken (Bias).35 Darüber hinaus besteht die Gefahr der subtilen Manipulation von Meinungen und Kaufentscheidungen. Obwohl OpenAI sich zu Sicherheit und ethischer KI bekennt, stellt die Überwachung und Steuerung eines derart komplexen Systems in globalem Maßstab eine immense Herausforderung dar.38
  • Ökologische Kosten: Der Betrieb der für diese KI-Plattform erforderlichen Infrastruktur hat einen enormen ökologischen Fußabdruck. Allein der 6-Gigawatt-Deal mit AMD könnte, je nach Auslastung, einen Energiebedarf haben, der dem eines kleinen Industrielandes entspricht.33 Der weltweite Energieverbrauch von KI-Rechenzentren wächst exponentiell und könnte bis 2030 auf über 1.000 Terawattstunden ansteigen. Diese Entwicklung stellt eine ernsthafte Herausforderung für globale Klima- und Nachhaltigkeitsziele dar und wirft die Frage auf, ob der gesellschaftliche Nutzen die ökologischen Kosten rechtfertigt.26

Fazit und strategischer Ausblick

Der OpenAI DevDay 2025 war weit mehr als eine Reihe von Produktankündigungen; er war die öffentliche Proklamation eines Plans zur Errichtung der nächsten großen Computerplattform. Das Konzept „OpenAI 2.0“ ist ein kühner, strategisch tief durchdachter und aggressiv vorangetriebener Versuch, die grundlegende Art und Weise, wie Menschen mit Technologie interagieren, neu zu definieren. Die Vision, ChatGPT als das zentrale Betriebssystem des KI-Zeitalters zu etablieren, stellt einen direkten Angriff auf die etablierten Machtstrukturen der digitalen Welt dar und hat das Potenzial, die Wettbewerbslandschaft für die kommenden Jahrzehnte zu prägen.

Die Analyse der vorgestellten Technologien und der zugrundeliegenden Strategie führt zu mehreren zentralen Schlussfolgerungen:

  1. Paradigmenwechsel ist real: Die Verlagerung von einer App-zentrierten, Point-and-Click-Interaktion zu einem konversationellen, KI-vermittelten Paradigma ist im Gange. OpenAI ist bestens positioniert, um diesen Wandel anzuführen und die De-facto-Standards für diese neue Ära zu setzen.
  2. Die Plattform ist der Burggraben: In einem zunehmend umkämpften Markt für KI-Basismodelle erkennt OpenAI korrekt, dass der nachhaltige Wettbewerbsvorteil nicht in der reinen Modellüberlegenheit liegt, sondern im Aufbau eines geschlossenen Ökosystems mit starken Netzwerkeffekten. Die Plattform dient als strategische Absicherung gegen die Kommodifizierung der Kerntechnologie.
  3. Machtkonzentration ist die Folge: Die Strategie der vertikalen Integration – von den Chips über die Cloud und die Modelle bis zur Endanwendung – führt unweigerlich zu einer massiven Machtkonzentration. Dies schafft ein KI-Oligopol, das fairen Wettbewerb erstickt, Innovationen außerhalb des Systems behindert und erhebliche systemische Risiken für die Offenheit des Internets und die Gesellschaft birgt.

Es ist zu erwarten, dass die etablierten Technologiegiganten nicht tatenlos zusehen werden. Die kommenden Jahre werden von einem intensiven „Plattformkrieg“ geprägt sein, in dem Google, Apple, Amazon und Meta versuchen werden, mit eigenen integrierten KI-Assistenten und Ökosystem-Strategien zu kontern. Der Erfolg von OpenAIs ambitioniertem Plan wird von drei entscheidenden Faktoren abhängen:

  • Akzeptanz durch Entwickler: Gelingt es, die globale Entwicklergemeinschaft schnell und nachhaltig davon zu überzeugen, für die neue Plattform zu bauen und innovative, unverzichtbare Anwendungen zu schaffen?
  • Gewohnheitsbildung bei Nutzern: Wird die konversationelle Erfahrung so überlegen, nahtlos und nützlich sein, dass sie für Hunderte von Millionen von Nutzern zur neuen, alltäglichen Gewohnheit wird und bestehende Verhaltensmuster ersetzt?
  • Management der Risiken: Kann OpenAI die enormen technischen, ethischen, regulatorischen und ökologischen Herausforderungen, die mit dem Betrieb einer solch zentralisierten globalen Plattform verbunden sind, glaubwürdig und effektiv bewältigen?

Aus dieser Analyse ergeben sich klare Handlungsempfehlungen für verschiedene Interessengruppen:

  • Für Entwickler und Unternehmen: Es ist eine duale Strategie ratsam. Einerseits ist die Prüfung einer Integration in das OpenAI-Ökosystem notwendig, um den Zugang zu einer riesigen Nutzerbasis nicht zu verlieren. Andererseits müssen Abhängigkeiten aktiv gemanagt und offene, dezentrale Alternativen unterstützt werden, um einen vollständigen Lock-in zu vermeiden.
  • Für Regulierungsbehörden: Die entstehenden vertikalen Integrationen und die damit verbundene Machtkonzentration erfordern eine proaktive und genaue Prüfung durch die Wettbewerbsbehörden. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um fairen Wettbewerb zu gewährleisten, Markteintrittsbarrieren abzubauen und die grundlegenden Prinzipien des offenen Internets zu schützen.32
  • Für die Gesellschaft: Es ist eine breite und informierte öffentliche Debatte über die weitreichenden Auswirkungen dieser technologischen Zentralisierung erforderlich. Fragen des Datenschutzes, der algorithmischen Voreingenommenheit, der Zukunft der Arbeit und der demokratischen Kontrolle über diese mächtigen Systeme müssen in den Mittelpunkt der politischen und gesellschaftlichen Agenda rücken.

Die auf dem DevDay 2025 vorgestellte Zukunft ist faszinierend und beunruhigend zugleich. Sie verspricht eine neue Ära der Einfachheit und Effizienz, birgt aber auch die Gefahr einer beispiellosen Zentralisierung von Macht und Kontrolle. Die kommenden Jahre werden entscheidend dafür sein, in welche Richtung sich die Waage neigen wird.

Referenzen

  1. Everything OpenAI announced at DevDay 2025: Agent Kit, Apps …, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.zdnet.com/article/everything-openai-announced-at-devday-2025-agent-kit-apps-sdk-chatgpt-and-more/
  2. OpenAI DevDay 2025: Check the Key Highlights, Major Announcements, and New ChatGPT Features – Jagran Josh, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.jagranjosh.com/us/tech-ai/openai-devday-1860001379
  3. OpenAI DevDay 2025: ChatGPT gets apps, AgentKit for developers …, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://indianexpress.com/article/technology/artificial-intelligence/openai-devday-2025-chatgpt-gets-apps-agentkit-for-developers-and-cheaper-gpt-models-10292443/
  4. OpenAI Turns ChatGPT Into Operating System With … – The Tech Buzz, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.techbuzz.ai/articles/openai-turns-chatgpt-into-operating-system-with-native-apps
  5. OpenAI creates more ‘headache’ for Apple and Google; launches its own version of app store: Here’s what it means for users, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://timesofindia.indiatimes.com/technology/tech-news/openai-creates-more-headache-for-apple-and-google-launches-its-own-version-of-app-store-heres-what-it-means-for-users/articleshow/124356608.cms
  6. DevDay 2025: OpenAI launches apps inside ChatGPT, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://m.economictimes.com/tech/artificial-intelligence/devday-2025-openai-launches-apps-inside-chatgpt/articleshow/124346472.cms
  7. OpenAI ChatGPT DevDay 2025 : Keynote With Sam Altman – Geeky Gadgets, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.geeky-gadgets.com/openai-devday-2025-keynote-sam-altman/
  8. OpenAI’s Windows Play – Stratechery by Ben Thompson, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://stratechery.com/2025/openais-windows-play/
  9. OpenAI DevDay 2025 live blog – Simon Willison’s Weblog, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://simonwillison.net/2025/Oct/6/openai-devday-live-blog/
  10. OpenAI – Wikipedia, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://en.wikipedia.org/wiki/OpenAI
  11. OpenAI’s strategy leak – PEX Network, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.processexcellencenetwork.com/ai/articles/the-open-illusion-3-lessons-learned-from-openais-strategy-leak
  12. OpenAI: Building the “Everything Platform” in AI – Leonis Capital, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.leoniscap.com/research/openai-building-the-everything-platform-in-ai
  13. OpenAI Just Turned ChatGPT Into an App Platform – Decrypt, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://decrypt.co/343037/openai-just-turned-chatgpt-into-app-platform
  14. OpenAI announces ChatGPT apps, embedded Codex coding agent at DevDay, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://siliconangle.com/2025/10/06/openai-announces-chatgpt-apps-embedded-codex-coding-agent-devday/
  15. OpenAI’s platform play, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.platformer.news/openai-dev-day-2025-platform-chatgpt/
  16. API Platform – OpenAI, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://openai.com/api/
  17. DevDay 2025: OpenAI launches agent kit, updates Codex model, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://m.economictimes.com/tech/artificial-intelligence/devday-2025-openai-launches-agent-kit-updates-codex-model/articleshow/124347547.cms
  18. How Can You Access the GPT-5 Pro API Today? – Apidog, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://apidog.com/blog/gpt-5-pro-api/
  19. Research | OpenAI, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://openai.com/research/
  20. Sora 2 API – CometAPI – All AI Models in One API, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.cometapi.com/sora-2/
  21. How Can Developers Use Sora 2 (Pro) API for Next-Level Video …, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://apidog.com/blog/sora-2-pro-api/
  22. ‘Almost all OpenAI code written using AI tool’: Sam Altman at DevDay 2025, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://indianexpress.com/article/technology/artificial-intelligence/openai-code-written-using-ai-sam-altman-devday-2025-10292874/
  23. OpenAI and chipmaker AMD sign chip supply partnership for AI …, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://apnews.com/article/openai-chatgpt-ai-chips-a4714748ede46621863f4860f608ac98
  24. OpenAI and AMD Announce Partnership to Deploy 6GW of AI …, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.gadgets360.com/ai/news/openai-amd-partnership-6-gigawatt-ai-infrastructure-instinct-mi450-gpu-9409679
  25. How people are using ChatGPT | OpenAI, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://openai.com/index/how-people-are-using-chatgpt/
  26. The Risks Behind OpenAI’s Rapid Rise | Exponential Era – Medium, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://medium.com/exponential-era/the-risks-behind-openais-rapid-rise-5af794ba5cbc
  27. Why artificial intelligence is creating fundamental challenges for competition policy – Bruegel, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.bruegel.org/policy-brief/why-artificial-intelligence-creating-fundamental-challenges-competition-policy
  28. OpenAI Newsroom | Product, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://openai.com/news/product-releases/
  29. Apps in ChatGPT vs Traditional Mobile/Web Apps: 2025 …, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://skywork.ai/blog/apps-in-chatgpt-vs-traditional-mobile-web-apps-comparison/
  30. Apple App Store vs Google Play Store Differences for Developers & Marketers | Bigabid, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.bigabid.com/apple-app-store-vs-google-play-store-differences/
  31. Apple’s App Store and Other Digital Marketplaces: A Comparison of Commission Rates – Analysis Group, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.analysisgroup.com/globalassets/insights/publishing/apples_app_store_and_other_digital_marketplaces_a_comparison_of_commission_rates.pdf
  32. We Need to Break Up Big AI Before It Breaks Us | TIME, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://time.com/7322418/chat-gpt-open-ai-nvidia-tech-monopoly/
  33. AMD Stock Skyrockets with OpenAI Deal, Sparking a New Challenge to Nvidia’s AI Dominance – CarbonCredits.com, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://carboncredits.com/amd-stock-skyrockets-with-openai-deal-sparking-a-100b-challenge-to-nvidia-ai-dominance/
  34. Competitions risks between OpenAI and Microsoft – OlarteMoure | Intellectual Property, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://olartemoure.com/en/competitions-risks-between-openai-and-microsoft/
  35. The Ethical Dilemma with Open AI ChatGPT: Is it Right or Wrong to prohibit it?, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.researchgate.net/publication/377092051_The_Ethical_Dilemma_with_Open_AI_ChatGPT_Is_it_Right_or_Wrong_to_prohibit_it
  36. The Limitations and Ethical Considerations of ChatGPT | Data Intelligence – MIT Press Direct, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://direct.mit.edu/dint/article/6/1/201/118839/The-Limitations-and-Ethical-Considerations-of
  37. The Ethical AI Imperative: How OpenAI is Leading the Way in Responsible Development, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://www.rtinsights.com/the-ethical-ai-imperative-how-openai-is-leading-the-way-in-responsible-development/
  38. Guiding the Future of AI: An Inside Look at OpenAI’s Ethical Policies – Medium, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://medium.com/@gargg/guiding-the-future-of-ai-an-inside-look-at-openais-ethical-policies-3503f17b6b0b
  39. How we think about safety and alignment – OpenAI, Zugriff am Oktober 7, 2025, https://openai.com/safety/how-we-think-about-safety-alignment/
KI-gestützt. Menschlich veredelt.

Martin Käßler ist ein erfahrener Tech-Experte im Bereich AI, Technologie, Energie & Space mit über 15 Jahren Branchenerfahrung. Seine Artikel verbinden fundiertes Fachwissen mit modernster KI-gestützter Recherche- und Produktion. Jeder Beitrag wird von ihm persönlich kuratiert, faktengeprüft und redaktionell verfeinert, um höchste inhaltliche Qualität und maximalen Mehrwert zu garantieren.

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