Das Kaninchenbau-Paradoxon: Eine multidimensionale Analyse digitaler Immersionsstrukturen, kultureller Metaphorik und algorithmischer Determination

1. Einleitung: Die Architektur der Ablenkung

In der zeitgenössischen digitalen Anthropologie hat sich eine Metapher so tief in das kollektive Bewusstsein gegraben wie kaum eine andere: das „Rabbit Hole“ (Kaninchenbau). Was im 19. Jahrhundert als literarischer Eingang in eine Welt des absurden Staunens begann, hat sich im 21. Jahrhundert zu einem soziotechnischen Terminus technicus gewandelt, der die fundamentale Erfahrung der Internetnutzung beschreibt. Es handelt sich um den Prozess, bei dem eine anfänglich triviale Suchanfrage oder ein beiläufiger Klick in eine scheinbar endlose Kette von Inhaltskonsum mündet, die den Nutzer zeitlich und kognitiv von seiner ursprünglichen Intention entkoppelt.¹

Dieser Bericht analysiert das Phänomen des Rabbit Holes in einer Tiefe, die über die bloße umgangssprachliche Nutzung hinausgeht. Wir betrachten es nicht als zufälliges Nebenprodukt des Internets, sondern als emergentes Resultat aus der Interaktion zwischen menschlicher Neuropsychologie – insbesondere unseren Mechanismen für Neugier und Belohnung – und der Architektur moderner Empfehlungsalgorithmen, die auf die Maximierung von Verweildauer optimiert sind.⁴ Dabei ist das Rabbit Hole ein ambivalenter Raum: Es ist sowohl ein Ort der serendipitären Bildung und des tiefen Eintauchens in Nischenhobbys („Deep Dives“) als auch ein Vektor für Radikalisierung, Desinformation und epistemische Fragmentierung.⁶

Angesichts der rasanten Entwicklung generativer künstlicher Intelligenz stehen wir am Vorabend einer weiteren Transformation dieses Konzepts. Wenn wir auf das Jahr 2026 blicken, deutet vieles darauf hin, dass das Rabbit Hole nicht mehr nur aus kuratierten Inhalten bestehen wird, sondern aus synthetischen Realitäten, die in Echtzeit auf die psychologischen Profile der Nutzer zugeschnitten werden.⁸ Dieser Bericht kartografiert die Geschichte, die Mechanismen und die Zukunft dieses Phänomens.

2. Historische Genealogie: Von Oxford nach Silicon Valley

Die Evolution des Begriffs „Rabbit Hole“ spiegelt die kulturelle Entwicklung der letzten 150 Jahre wider. Die Metapher hat ihre Unschuld verloren und sich von einem Symbol für kindliche Fantasie zu einem Code für Kontrollverlust und subversive Erkenntnis gewandelt.

2.1 Lewis Carroll und der Sturz in die Assoziation (1865)

Der Ursprung liegt in Lewis Carrolls Werk Alice’s Adventures in Wonderland aus dem Jahr 1865. Im ersten Kapitel, titelgebend „Down the Rabbit-Hole“, folgt die Protagonistin Alice einem weißen Kaninchen, das auf eine Taschenuhr blickt, in dessen Bau. Phänomenologisch ist dieser Sturz von entscheidender Bedeutung für das heutige Verständnis: Er geschieht nicht abrupt. Alice fällt langsam genug, um sich umzusehen, Marmeladengläser aus Regalen zu nehmen und über irrelevante Dinge wie ihre Katze Dinah zu sinnieren.¹

Diese Passage ist eine bemerkenswert präzise Vorwegnahme der modernen Hypertext-Erfahrung. Wie Alice, die während des Falls vom eigentlichen Ziel (dem Kaninchen) abgelenkt wird und sich in der Betrachtung der Umgebung verliert, verliert der moderne Internetnutzer das ursprüngliche Ziel seiner Suche aus den Augen, während er von Link zu Link gleitet. Carroll etablierte damit das Rabbit Hole als einen Transitraum, in dem die konventionelle Logik und vor allem das lineare Zeitgefühl außer Kraft gesetzt sind.²

2.2 Semantische Verschiebungen im 20. Jahrhundert

Lange Zeit blieb der Begriff rein literarisch. Doch bereits im frühen 20. Jahrhundert begann eine Metamorphose.

• Juristische Komplexität: Das Oxford English Dictionary datiert eine der ersten metaphorischen Verwendungen auf das Jahr 1938 in einem Artikel des Yale Law Journal. Hier wurde das „Rabbit-Hole“ genutzt, um den Sturz in die bizarre und oft widersprüchliche Welt der Rechtswissenschaft zu beschreiben: „It is the Rabbit-Hole down which we fell into the Law“.² Dies markiert den Beginn der Nutzung des Begriffs für Systeme, die von außen rational erscheinen, aber im Inneren einer eigenen, verwirrenden Logik folgen.
• Die psychedelische Wende: In den 1960er und 70er Jahren wurde die Metapher durch die Gegenkultur und Bands wie Jefferson Airplane (Song: „White Rabbit“) neu aufgeladen. Das „Fallen“ wurde zum Synonym für den Drogentrip, die Bewusstseinserweiterung und das Verlassen der konsensuellen Realität.¹⁰ Hier wurde der Grundstein für die spätere Verbindung zu Verschwörungstheorien gelegt: Der Kaninchenbau führt zu einer „anderen“ Wahrheit.

2.3 Die Matrix und die Politisierung der Metapher (1999)

Der definitive Übergang in die digitale Popkultur erfolgte durch den Film The Matrix (1999). Die Wahl, die Morpheus dem Protagonisten Neo anbietet – die blaue Pille für die Illusion, die rote Pille, um zu sehen, „wie tief der Kaninchenbau führt“ – zementierte die Metapher als einen Weg zur Erkenntnis der „wahren“ Realität hinter der Simulation.²

Interessanterweise hat sich diese Interpretation in den letzten Jahren verselbstständigt. In Online-Subkulturen, insbesondere der Alt-Right und der Manosphere, bedeutet „Red Pilling“ heute das Erwachen zu einer vermeintlich unterdrückten politischen Wahrheit. Dies ist eine ironische Aneignung, da die Wachowski-Schwestern den Film auch als Allegorie auf die Trans-Erfahrung beschrieben haben – eine Transformation der Identität und Wahrnehmung, die in der rechten Aneignung oft ignoriert wird.¹¹ Dennoch bleibt das Bild bestehen: Das Rabbit Hole ist der Ort, an dem die offizielle Geschichte endet und die „verborgene“ beginnt.

3. Die Psychologie des Abstiegs: Warum wir fallen

Das technologische Design des Internets wäre wirkungslos, wenn es nicht auf fundamentale psychologische Mechanismen des Menschen treffen würde. Das Rabbit Hole ist das Resultat einer perfekten Passung zwischen menschlicher Neugier und digitaler Belohnungsstruktur.

3.1 Die Neugier-Lücke (Information Gap Theory)

Nach der Theorie von George Loewenstein entsteht Neugier, wenn wir eine Lücke zwischen dem wissen, was wir wissen, und dem, was wir wissen wollen, wahrnehmen. Diese Lücke erzeugt ein Gefühl der Entbehrung, das wir beseitigen wollen. Das Internet ist eine Maschine zur Erzeugung solcher Lücken. Jeder Klick beantwortet eine Frage, wirft aber durch Querverweise und Empfehlungen sofort drei neue auf.13

Untersuchungen zeigen, dass das Schließen dieser Lücken das Belohnungssystem des Gehirns aktiviert. Der Neurotransmitter Dopamin spielt hierbei eine zentrale Rolle – nicht nur beim Erhalt der Information, sondern bereits bei der Antizipation.14 Das „Rabbit Hole“ ist somit eine dopaminerge Feedbackschleife:

1. Trigger: Ein interessantes Thumbnail oder eine provokante Überschrift.
2. Action: Der Klick.
3. Reward: Die Befriedigung der Neugier (Dopamin-Ausschüttung).
4. Investment: Die Investition von Zeit, die durch den Algorithmus mit neuen Triggern beantwortet wird.¹⁵

3.2 Flow-Zustand vs. Passive Trance

Oft wird das Verlorengehen im Internet mit dem „Flow“-Zustand verglichen, den Mihály Csíkszentmihályi definierte. Flow ist ein Zustand völliger Vertiefung, in dem das Zeitgefühl schwindet.¹⁶ Es gibt jedoch einen qualitativen Unterschied:

• Echter Flow erfordert meist eine aktive Tätigkeit (z.B. Programmieren, Musizieren, Schreiben), bei der die Fähigkeiten des Nutzers und die Herausforderung der Aufgabe in Balance sind.
• Das Rabbit-Hole-Erlebnis ist oft passiver. Forscher unterscheiden hier zwischen epistemischer Neugier (Wissensdurst, der zu echtem Lernen führt) und perzeptueller Neugier (Reaktion auf neue, bizarre Reize). Viele algorithmische Rabbit Holes (z.B. auf TikTok) stimulieren eher letzteres. Der Nutzer befindet sich in einer „Zone“ der Passivität, die oft nicht als erfüllend, sondern im Nachhinein als leer empfunden wird.⁵

3.3 Der Sucht-Mechanismus: Variable Belohnung

Das Design moderner Feeds (Infinite Scroll) nutzt das Prinzip der variablen Belohnung, das B.F. Skinner bei Tieren nachwies. Wenn eine Handlung (Scrollen) nicht jedes Mal, sondern unvorhersehbar eine Belohnung (ein interessantes Video) liefert, ist das Verhalten am schwersten zu löschen.18

Das Rabbit Hole ist wie ein Spielautomat: Die meisten Inhalte sind „Nieten“ (mittelmäßig interessant), aber das Gehirn sucht nach dem nächsten „Gewinn“ (dem viralen Hit, der perfekten Information). Da es keine Stopp-Signale mehr gibt (wie das Ende eines Buchkapitels), gibt es keinen externen Impuls, den Abstieg zu beenden.19

4. Die algorithmische Architektur: Die Maschine hinter dem Bau

Das moderne Rabbit Hole ist kein Naturphänomen, sondern ein konstruiertes Artefakt. Es basiert auf komplexen Empfehlungssystemen (Recommender Systems), deren primäres Ziel oft die Maximierung der Watch Time (Sitzungsdauer) und des Engagements ist.

4.1 Funktionsweise von Empfehlungssystemen

Um zu verstehen, wie Algorithmen Nutzer lenken, muss man zwischen zwei grundlelgenden Ansätzen unterscheiden, die heute meist hybrid eingesetzt werden:

Tabelle 1: Algorithmische Filter-Ansätze

Ansatz	Funktionsweise	Auswirkung auf das Rabbit Hole	Quellen
Content-Based Filtering	Analysiert die Eigenschaften des Objekts. Wer Video A (Tag: “Katze”) mag, bekommt Video B (Tag: “Katze”).	Führt zu einer thematischen Vertiefung. Der Nutzer wird zum Experten in einer Nische, bleibt aber thematisch isoliert.	20
Collaborative Filtering	Analysiert Nutzer-Verhalten. “Nutzer, die A mochten, mochten auch B.” Es werden Muster zwischen Usern gesucht.	Führt zu unvorhergesehenen Pfaden. Wenn Verschwörungstheoretiker oft auch Kochvideos schauen, könnte ein Koch-Fan zu Verschwörungstheorien geleitet werden.	22
Reinforcement Learning	Der Algorithmus lernt durch Versuch und Irrtum (Belohnung = Watch Time), welche Abfolge von Inhalten den Nutzer am längsten hält.	Kann extremisierende Pfade erzeugen, wenn extreme Inhalte (Outrage, Schock) zu längerer Verweildauer führen.	6

4.2 Die Rolle von YouTube und TikTok

Plattformen wie YouTube und TikTok wurden oft dafür kritisiert, perfekte Rabbit-Hole-Maschinen zu sein.

• TikTok: Studien mit Bots haben gezeigt, dass der TikTok-Algorithmus extrem schnell lernt. Innerhalb von 40 Minuten bis zwei Stunden kann der Algorithmus die Interessen eines Nutzers (oder Bots) so präzise erfassen, dass der Feed fast ausschließlich aus Nischeninhalten besteht. In Experimenten wurden Bots, die Interesse an “Traurigkeit” zeigten, schnell in Spiralen aus depressiven Inhalten geführt. Bots mit politischem Interesse landeten oft bei Verschwörungstheorien.⁶
• YouTube: Frühere Studien deuteten darauf hin, dass YouTube-Algorithmen Nutzer zu extremeren Inhalten radikalisierten (“Algorithmic Radicalization”). Neuere Untersuchungen zeigen jedoch ein differenzierteres Bild: Während der Algorithmus Nutzer durchaus in engere ideologische Bereiche führt (“Filterblasen”), ist der Weg in extremistische “Rabbit Holes” oft auch durch das aktive Suchverhalten der Nutzer getrieben und nicht allein durch Empfehlungen. Dennoch bleibt die Tendenz bestehen, dass sensationalistische Inhalte algorithmisch begünstigt werden, da sie Aufmerksamkeit binden.²⁶

5. Typologie der Kaninchenbauten: Zwischen Hobby und Wahn

Nicht alle Rabbit Holes sind destruktiv. Wir müssen zwischen benignen (gutartigen) und malignen (bösartigen) Varianten unterscheiden. Das Internet hat eine Blütezeit der Nischenkulturen ermöglicht, aber auch die Verbreitung gefährlicher Ideologien beschleunigt.

5.1 Der benigne Kaninchenbau: Leidenschaft und Bildung

Das gutartige Rabbit Hole ist ein Ort des Lernens und der Gemeinschaft. Es ermöglicht Nutzern, Expertenwissen in Bereichen zu erlangen, die im analogen Leben kaum zugänglich wären.

Fallbeispiel: Mechanische Tastaturen

Ein klassisches Beispiel für ein technisches Hobby-Rabbit-Hole ist die Community rund um mechanische Tastaturen. Was als pragmatische Suche nach einem Eingabegerät beginnt, führt oft zu einer Obsession.²⁹

• Die Tiefe: Nutzer lernen über die Unterschiede zwischen linearen und taktilen Schaltern (Switches), über die Akustik von Gehäusematerialien, über das Schmieren (Luben) von Stabilisatoren und die Ästhetik von Tastenkappen-Sets (Keycaps).³¹
• Die Ökonomie: Es entsteht ein Markt mit limitierten “Group Buys”, der künstliche Verknappung nutzt, um das Begehren wachzuhalten. Das “Endgame”-Keyboard wird zum heiligen Gral, der nie erreicht wird, da es immer eine neue Modifikation gibt.³²
• Die Psychologie: Dieses Rabbit Hole wird als positiv empfunden (“Flow”), da es Kreativität, technisches Verständnis und Gemeinschaftsgefühl fördert, auch wenn es finanziell kostspielig sein kann.³³

Fallbeispiel: Wikipedia und Wissensspiele

Das “Wiki Rabbit Hole” ist die digitale Form des Stöberns in einer Bibliothek. Nutzer klicken sich von “Napoleon” zu “Korsika” zu “Geologie des Mittelmeers”. Spiele wie “The Wiki Game” oder “Wikiracing” haben dies gamifiziert: Wer findet den kürzesten Weg zwischen zwei unzusammenhängenden Begriffen (z.B. “Hippie” zu “Connecticut”)? Dies fördert vernetztes Denken und Allgemeinbildung.³⁴

5.2 Der maligne Kaninchenbau: Verschwörung und Radikalisierung

Die dunkle Seite manifestiert sich, wenn die Mechanismen der Neugier und Gemeinschaftsbildung für Desinformation genutzt werden.

Fallbeispiel: QAnon

QAnon ist das Archetyp-Beispiel eines malignen Rabbit Holes, das Familien und Gesellschaften spaltet. Es begann 2017 mit kryptischen Posts eines Nutzers namens “Q” auf 4chan.

• Gamification der Propaganda: QAnon funktionierte wie ein Alternate Reality Game (ARG). Q hinterließ “Brotkrumen” (Clues), und die Anhänger (“Bäcker”) mussten diese interpretieren. Dieses “Do your own research”-Mantra nutzte den psychologischen Effekt, dass Menschen Informationen, die sie sich selbst “erarbeitet” haben, stärker glauben als vorgekauten Nachrichten.⁷
• Der Abstieg: Viele Anhänger begannen mit harmlosen Themen (z.B. Kinderschutz, Wellness, Yoga – oft “Pastel QAnon” genannt) und wurden durch algorithmische Empfehlungen und soziale Gruppen in eine Welt geführt, in der eine satanische Elite Kinderblut trinkt. Die Isolation während der COVID-19-Pandemie verstärkte diesen Effekt massiv, da Menschen mehr Zeit online verbrachten und nach Erklärungen für das Chaos suchten.³⁸
• Soziale Folgen: Für Angehörige ist der Verlust oft traumatisch. Der Begriff “Down the Rabbit Hole” beschreibt hier eine Entfremdung, bei der die gemeinsame Realitätsbasis verloren geht. Foren wie r/QAnonCasualties dokumentieren das Leid von Familien, die ihre Eltern oder Partner an den Kaninchenbau verloren haben.⁴⁰

6. Das Konzept in der Popkultur: Spiegel der Gesellschaft

Die Kunst verarbeitet die Ängste und Faszinationen, die das Rabbit Hole auslöst. Sie bietet Metaphern, um das Unbegreifliche zu beschreiben.

6.1 The Matrix: Die Wahl der Realität

Wie bereits erwähnt, ist The Matrix zentral. Die Szene mit der roten und blauen Pille ist zur kulturellen Chiffre geworden. Sie impliziert, dass die konsensuelle Realität eine Lüge ist und das Rabbit Hole (die rote Pille) zur harten, aber notwendigen Wahrheit führt. Diese Metapher wird heute universell verstanden, auch von Menschen, die den Film nie gesehen haben.¹² Interessant ist hier der Bezug zur Philosophie von Jean Baudrillard (Simulacra and Simulation), dessen Buch im Film sogar kurz zu sehen ist. Baudrillards These, dass die Simulation die Realität ersetzt hat (“Hyperrealität”), ist die philosophische Grundlage des modernen Internet-Rabbit-Holes.⁴³

6.2 Black Mirror: „Joan is Awful“

Die Black Mirror-Episode “Joan is Awful” (Staffel 6) treibt das Konzept des personalisierten Rabbit Holes auf die Spitze. Eine Frau entdeckt, dass ihr Leben in Echtzeit als Serie auf dem Streamingdienst “Streamberry” läuft.

• Hyper-Personalisierung: Die Episode zeigt eine Welt, in der Algorithmen (durch Quantencomputer) Inhalte generieren, die exakt auf die Ängste und das Leben eines einzelnen Nutzers zugeschnitten sind. Joan ist gefangen in einer Feedbackschleife ihres eigenen Lebens.
• Rekursion: Es stellt sich heraus, dass die “Realität”, die wir sehen, bereits eine Simulation ist (ein Rabbit Hole im Rabbit Hole). Dies kommentiert die Angst vor dem Verlust der Privatsphäre und der Autonomie durch algorithmische Überwachung.⁴⁵

6.3 Podcasts: Das akustische Dokumentieren

Der Podcast Rabbit Hole der New York Times (2020) ist ein journalistischer Meilenstein. Er begleitete einen jungen Mann, Caleb Cain, der durch YouTube-Algorithmen in die Alt-Right-Szene abrutschte. Der Podcast machte die unsichtbaren Pfade der Algorithmen hörbar und zeigte, dass Radikalisierung oft ein schleichender Prozess ist, der mit der Suche nach Gemeinschaft und Sinn beginnt.⁴⁸

7. Regulierung und Gegenmaßnahmen: Der Digital Services Act (DSA)

Die Erkenntnis, dass unregulierte Algorithmen gesellschaftliche Risiken bergen, hat den Gesetzgeber auf den Plan gerufen. Die Europäische Union hat mit dem Digital Services Act (DSA) ein weltweit einzigartiges Regelwerk geschaffen.

7.1 Systemische Risiken und Transparenz

Seit 2023/2024 müssen “Very Large Online Platforms” (VLOPs) wie TikTok, YouTube und Instagram ihre Algorithmen auf “systemische Risiken” untersuchen.

• Artikel 34 DSA: Verpflichtet Plattformen, Risiken zu bewerten, die sich aus dem Design ihrer Systeme ergeben – explizit auch solche, die negative Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden (Sucht, Rabbit Holes) haben.⁵⁰
• Transparenzpflicht: Ab 2026 werden harmonisierte Transparenzberichte erwartet, in denen Plattformen offenlegen müssen, wie ihre Empfehlungssysteme funktionieren und welche Maßnahmen sie gegen die Verstärkung schädlicher Inhalte ergreifen. Nutzer müssen zudem Optionen erhalten, Empfehlungen abzuschalten, die auf Profiling basieren.⁵²

7.2 Digital Wellbeing Tools

Auf Nutzerseite wächst der Markt für “Digital Wellbeing”. Tools, die “Infinite Scroll” blockieren, YouTube-Empfehlungen ausblenden oder die Bildschirmzeit begrenzen, sind Versuche, die Autonomie zurückzugewinnen. Das Ziel ist es, aus der passiven Konsumhaltung (“Lean Back”) wieder in eine aktive Nutzung (“Lean Forward”) zu kommen.⁵⁵

8. Ausblick 2026: Das Kaninchenbau im Zeitalter der KI

Wenn wir auf das Jahr 2026 blicken, stehen wir vor einer fundamentalen Veränderung. Das klassische Rabbit Hole basierte auf der Entdeckung existierender Inhalte (Videos, Texte, Bilder). Das Rabbit Hole der Zukunft basiert auf der Generierung neuer Inhalte.

8.1 Generative KI und synthetische Realitäten

Mit der Reife von generativen KI-Modellen (Text-to-Video, Echtzeit-Generierung) bewegen wir uns auf eine Ära zu, in der Inhalte nicht mehr kuratiert, sondern ad hoc für den Nutzer erschaffen werden.

• Das personalisierte Endlos-Narrativ: Stellen Sie sich vor, Sie schauen eine Serie, die nie endet, weil eine KI das Drehbuch in Echtzeit weiterschreibt, basierend darauf, worüber Sie gerade gelacht oder geweint haben. Das Rabbit Hole wird zu einem Maßanzug. Es gibt kein “Ende” des Contents mehr, weil er nicht vorproduziert ist.⁸
• Gefahr der Isolation: Dies könnte zur ultimativen “Filterblase” führen – einer Realitätsblase. Wenn jeder Mensch seine eigene, KI-generierte Unterhaltung und Information konsumiert, schwindet die Basis für gemeinsame kulturelle Referenzen noch weiter. Die Fragmentierung der Gesellschaft würde total.⁵⁸

8.2 AI Agents: Die neuen Pfadfinder?

Analysten wie Forrester und Deloitte prognostizieren für 2026 den massenhaften Einsatz von “AI Agents” – autonomen Software-Assistenten, die Aufgaben für uns erledigen.⁹

• Delegierte Neugier: Wir könnten Agenten in den Kaninchenbau schicken. “Finde alles über Thema X heraus und fasse es zusammen.” Dies könnte uns vor dem Zeitverlust bewahren (“Anti-Rabbit-Hole”).
• Agentic Rabbit Holes: Andererseits könnten Agenten selbst in Schleifen geraten. Wenn KI-Agenten miteinander interagieren oder auf halluzinierte Informationen hereinfallen, entstehen “synthetische Rabbit Holes”, in denen Maschinen Maschinen Desinformation füttern, was wiederum die menschliche Entscheidungsfindung vergiften könnte (Epistemische Umweltverschmutzung).⁵⁹

8.3 Das Metaverse und Spatial Computing

Sollte sich Spatial Computing (z.B. durch Geräte wie die Apple Vision Pro oder deren Nachfolger bis 2026) etablieren, wird das Rabbit Hole räumlich. Der Begriff kehrt zu seiner physischen Wurzel zurück: Man “betritt” eine virtuelle Welt. Die Immersion wäre total, die Ablenkung allumfassend. In einer solchen Umgebung ist das Rabbit Hole kein Tab im Browser mehr, sondern eine simulierte Umgebung, aus der man sich physisch (durch Absetzen der Brille) befreien muss.⁹

9. Fazit: Die Ambivalenz der Tiefe

Das “Rabbit Hole” ist weit mehr als ein Internet-Slang. Es ist die zentrale Metapher für das Leben in der Informationsgesellschaft. Es symbolisiert den permanenten Konflikt zwischen unserem biologischen Drang nach Neuem (Neugier) und den technologischen Systemen, die diesen Drang monetarisieren (Aufmerksamkeitsökonomie).

Die Geschichte des Begriffs von Alice im Wunderland bis zu QAnon zeigt eine Verdüsterung: vom staunenden Entdecken zum paranoiden Wahn. Doch die Zukunft ist nicht zwangsläufig dystopisch. Die Gegenbewegungen – sei es durch Regulierung wie den DSA, durch technologische Souveränität oder durch kulturelles Bewusstsein – zeigen, dass wir lernen, mit dem Werkzeug umzugehen.

Im Jahr 2026 wird die Herausforderung darin bestehen, in einer Welt aus synthetischen Inhalten die “Wahrheit” nicht als etwas zu verstehen, das man am Ende eines Kaninchenbaus findet, sondern als etwas, das man aktiv durch kritisches Denken und menschliche Verbindung konstruieren muss. Wir müssen lernen, im Kaninchenbau zu wandern, ohne dort einzuziehen.

Anhang: Strukturdaten

Tabelle 2: Evolution der Rabbit-Hole-Metapher

Zeitraum	Kontext	Bedeutung	Primäre Assoziation	Quellen
1865	Literatur	Eintritt in eine Welt des Absurden und der Wunder	Lewis Carrolls Alice	1
1930er-50er	Recht/Wissenschaft	Konfrontation mit bizarer Komplexität	Bürokratie, Quantenphysik	2
1960er-70er	Gegenkultur	Psychedelische Erfahrung, Drogentrip	Jefferson Airplane, LSD	3
1999	Film (Matrix)	Aufwachen zur schmerzhaften Wahrheit	Rote Pille, Systemkritik	2
2010er	Web 2.0	Zeitverlust durch algorithmische Empfehlungen	YouTube, Wikipedia, Hobbys	4
2020er	Politik/Gesellschaft	Radikalisierung, Verschwörungstheorien	QAnon, Echokammern	7
2026+ (Prognose)	KI/Synthetik	Personalisierte, generierte Realitätsblasen	Generative KI, Agenten	8

Tabelle 3: Symptome und Gegenmaßnahmen

Aspekt	Symptom im “Kaninchenbau”	Gegenmaßnahme (Digital Wellbeing)
Zeit	Verlust des Zeitgefühls, Stunden vergehen wie Minuten	Time-Limits, Wecker stellen, “Take a Break” Reminder
Fokus	Tunnelblick, Vernachlässigung der physischen Umgebung	Achtsamkeit, “Grounding”-Techniken, Pausen erzwingen
Emotion	Dopamin-Jagd, FOMO (Fear Of Missing Out), Agitation	JOMO (Joy Of Missing Out), bewusster Konsumverzicht
Kognition	Unkritisches Akzeptieren von Mustern (Apophenie)	Quellenprüfung, “Lateral Reading” (seitliches Lesen)
Quellen	15	4

Referenzen

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40. When belief becomes research: conspiracist communities on the social web – Frontiers, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.frontiersin.org/journals/communication/articles/10.3389/fcomm.2024.1345973/full
41. How Far Down the QAnon Rabbit Hole Did Your Loved One Fall? | Psychology Today, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.psychologytoday.com/us/blog/psych-unseen/202008/how-far-down-the-qanon-rabbit-hole-did-your-loved-one-fall
42. In the 1981 work that inspired the Matrix movies, Jean Baudrillard says that we are already living inside a hyperreal simulation and are entirely walled off from reality. This simulation isn’t simply virtual as it is in the Matrix but penetrates every corner of our postmodern civilisation : r/philosophy – Reddit, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.reddit.com/r/philosophy/comments/rax9j0/in_the_1981_work_that_inspired_the_matrix_movies/
43. Of Simulation and Simulacra: Baudrillard in The Matrix, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.matrixfans.net/symbolism-philosophy-and-allegory/of-simulation-and-simulacra-baudrillard-in-the-matrix/
44. Baudrillard, whose book Simulacra and Simulation was the main inspiration for The Matrix trilogy, hated the movies and in a 2004 interview called them hypocritical saying that “The Matrix is surely the kind of film about the matrix that the matrix would have been able to produce” : r/philosophy – Reddit, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.reddit.com/r/philosophy/comments/rld8ad/baudrillard_whose_book_simulacra_and_simulation/
45. Black Mirror: “Joan Is Awful” Recap and Analysis – TV Obsessive, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://tvobsessive.com/2023/06/16/black-mirror-joan-is-awful-recap-and-analysis/
46. How Black Mirror’s Joan Is Awful Explains Everything Wrong with the Industry – MovieWeb, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://movieweb.com/black-mirror-joan-is-awful-explains-everything-wrong-industry/
47. Joan is Awful plot hole? Or am I missing something? : r/blackmirror – Reddit, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.reddit.com/r/blackmirror/comments/14me5qf/joan_is_awful_plot_hole_or_am_i_missing_something/
48. Rabbit Hole (podcast) – Wikipedia, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://en.wikipedia.org/wiki/Rabbit_Hole_(podcast)
49. Rabbit Hole – Kevin Roose, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.kevinroose.com/rabbit-hole
50. Article 34, the Digital Services Act (DSA), Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.eu-digital-services-act.com/Digital_Services_Act_Article_34.html
51. DSA: Very large online platforms and search engines | Shaping Europe’s digital future, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/policies/dsa-vlops
52. Digital Services Act (DSA) | Updates, Compliance, Training, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.eu-digital-services-act.com/
53. Harmonised transparency reporting rules under the Digital Services Act now in effect, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/news/harmonised-transparency-reporting-rules-under-digital-services-act-now-effect
54. The Regulation of Recommender Systems Under the DSA: A Transition from Default to Multiple and Dynamic Controls?, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://dsa-observatory.eu/2024/11/22/the-regulation-of-recommender-systems-under-the-dsa-a-transition-from-default-to-multiple-and-dynamic-controls/
55. How to Avoid the Downside of the Internet Rabbit Hole | Psychology Today, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.psychologytoday.com/us/blog/the-engaged-mind/202106/how-avoid-the-downside-the-internet-rabbit-hole
56. 8 Ways to Improve your Sense of Digital Wellbeing, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://wellbeingpeople.com/optimal-wellbeing/8-ways-to-improve-your-sense-of-digital-wellbeing/2023/
57. AI’s that can create and infinitely stream their own content are getting closer – 311 Institute, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.311institute.com/ais-that-can-create-and-infinitely-stream-their-own-content-are-getting-closer/
58. They Asked ChatGPT Questions. The Answers Sent Them Spiraling: Generative A.I. chatbots are going down conspiratorial rabbit holes and endorsing wild, mystical belief systems. For some people, conversations with the technology can deeply distort reality. : r/neoliberal – Reddit, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.reddit.com/r/neoliberal/comments/1lamhzr/they_asked_chatgpt_questions_the_answers_sent/
59. Predictions 2026: AI Agents, Changing Business Models, And Workplace Culture Impact Enterprise Software – Forrester, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://www.forrester.com/blogs/predictions-2026-ai-agents-changing-business-models-and-workplace-culture-impact-enterprise-software/
60. AI Agents Poised to Transform Society, But Governance Lags Behind, Report Warns, Zugriff am Dezember 6, 2025, https://babl.ai/ai-agents-poised-to-transform-society-but-governance-lags-behind-report-warns/